Der kürzliche Erwerb des Nachdrucks von „Die Eisenbahnen im Herzogthum Braunschweig zu Anfang des XX. Jahrhunderts“ – das Original soll sich in der Bibliothek der TU Braunschweig befinden – erwies sich als Glückstreffer, da in diesem nach amtlichen Quellen vom Geheimen Regierungsrath R.A. Schulz-Niborn bearbeiteten Werk tatsächlich sämtliche Eisenbahnen im Herzogtum behandelt werden, darunter auch die Strecke Northeim – Nordhausen und die Schmalspurbahnen im Harz, da alle irgendwo ein Stück durch das Herzogtum Braunschweig hindurch führten. Stationen und Abschnitte dieser Strecken außerhalb der Grenzen des Herzogtums werden nicht behandelt.
Zur fraglichen Zeit gehörten alle Bahnen im Herzogtum entweder zur Königlich Preußischen Staatsbahn oder aber waren privater Natur wie die „Südharz-Eisenbahn“. Das Herzogtum hatte ja nach 1870 seine Staatsbahn verkauft, über eine Bank gelangte sie in die Hände der Berlin-Potsdam-Magdeburger Eisenbahn, der Magdeburg-Halberstädter Eisenbahn und der Bergisch-Märkischen Eisenbahn und nach deren Verstaatlichung eben an Preußen. Das Buch verschafft einen guten Überblick über die Bedeutung der Eisenbahn als Transportmittel im damaligen Herzogtum Braunschweig. Es seien einige Passagen für den Südharz zitiert:
„Ähnlich dem Vorstehenden waren auch die Bestimmungen des mit Preußen am 18./27. April 1867 geschlossenen Staatsvertrages wegen der von der Magdeburg-Leipziger Eisenbahn-Gesellschaft, die bereits in den vorhergehenden Jahren 1865/67 die Linie Halle – Nordhausen als Theilstrecke der Halle-Casseler Bahn fertiggestellt hatte, zu erbauenden Linie von Nordhausen auf Herzberg bis zur Grenze des früheren Königreichs Hannover bei Nüxei, die bei Walkenried das Braunschweigsche Gebiet auf eine Länge von insgesammt 6,307 km durchschnitt. Die Herzogl. Regierung verpflichtete sich darin der ausführenden Privat-Gesellschaft außer einem Baarzuschuß zu den Baukosten den erforderlichen Grund und Boden unentgeltlich zu überweisen, und derselben Freiheit von Grund- und Gewerbesteuer und sonstigen öffentlichen Lasten zuzugestehen.“
An anderer Stelle wird der Zuschuss, den der Landtag genehmigen musste, mit 95.000 Talern beziffert. Wir sehen: Das Südniedersachsen-Programm ist keine Erfindung unserer Tage – Strukturpolitik in bestem Sinne wurde auch schon 1867 betrieben. Was war nun 1900 auf dem Walkenrieder Bahnhof los?
„4. Bahnlinie Northeim – Nordhausen.
Diese ist mit Doppelgleisen versehen und gehört zur Eisenbahn-Betriebsinspektion Nordhausen II. Sie betritt das Braunschweigsche Gebiet zunächst bei km 135,13 (ab Ottbergen), verläßt es aber schon wieder bei km 135,83, überschreitet dann bei km 136,44 nochmals die Braunschweigsche Grenze und tritt bei km 142,02 wieder aus. Die Gesamtlänge auf Herzogl. Braunschweigschem Gebiet beträgt mithin 6,30 km, darin befindet sich die Station Walkenried bei km 138,4. Daselbst hat auch der für dieses Stück bestellte Bahnaufsichtsbeamte (Bahnmeister) seinen Wohnsitz.
In anderweiter Beziehung gehört diese Strecke zur
Eisenbahn-Maschinen-Inspektion Nordhausen,
Eisenbahn-Werkstätten-Inspektion Göttingen,
Eisenbahn-Verkehrs-Inspektion Nordhausen,
Eisenbahn-Telegraphen-Inspektion Cassel.
Der Telegraphenmeister hat seinen Amtssitz in Northeim.
Die tägliche Zugfrequenz dieser Strecke beträgt 12-14 Personenzüge, 30 – 36 Vieh- und Güterzüge.
Station Walkenried ist Bahnhof II. Klasse mit vereinigtem Dienst und ist ununterbrochen besetzt. Die Abfertigungsbefugnisse sind nicht beschränkt, für Privatdepeschen besteht voller Tagesdienst. Wirthschaftsbetrieb im Stationsgebäude. Materialien-Niederlage. Der Dienst wird versehen von durchschnittlich 10 Beamten und 4 Arbeitern.
Die Bahnhofsgleise haben eine Ausdehnung von 3,76 km mit 23 Weichen. Walkenried ist Wasserstation und ausgerüstet mit 1 Gleiswaage von 6,9 m Länge und 25 to Höchstgewicht. Ferner sind für die Güter-Abfertigung vorhanden: 1 feste Laderampe, Lademaaß und 1 Lastkrahn von 2500 kgr Tragkraft. Die hier entladenen Viehwagen werden in Nordhausen desinficirt. Die Güter-An- und Abfuhr geschieht durch Privatunternehmer. Privat-Gleisanschlüsse bestehen
- Nach dem Bahnhof der Südharzbahn
- Nach dem Baumaterialien-Lager von Pfeiffer.
Der Verkehrsumfang betrug 1899:
Personen | Vieh (Stück) | Güter (to)
groß | klein | Stück- | Ladungs-
Abgang | 35.646 | 44 | 218 | 2.315 | 33.558
Eingang | 36 | 560 | 1.525 | 24.980
Haupt-Versand: Gyps, Eisenwaren, Holz, Rüben.
Haupt-Empfang: Steinkohlen, Roheisen, Sand, Holz.“
Vergleichen wir mal zu heute: Da passieren den Bahnhof Walkenried täglich 34 Personenzüge und zwischen 0-4 Güterzüge. Die Zahl der Reisenden liegt heute 2-3 Mal höher als 1899. Hingegen wird aktuell nicht eine Tonne Güter mehr abgefertigt. Die überragende Bedeutung der Eisenbahn für den Güterverkehr – und umgekehrt die Tatsache, dass es den Eisenbahnen gut ging, so lange es überall Güter zu transportieren gab – wird hier mehr als deutlich. Gegenwärtig gibt es noch 3 bediente Weichen, und durchschnittlich versieht exakt ein Eisenbahner den Dienst (pro Schicht). Dennoch – auch in seiner völlig gewandelten Rolle ist der Bahnhof für Walkenried weiterhin ein sehr wichtiges Stück Infrastruktur.
Schauen wir nun noch hinüber zur „Südharz-Eisenbahn“:
„Es werden auf der Hauptstrecke im Sommer 5, im Winter 4 gemischte Züge in jeder Richtung gefahren.
Station Walkenried in unmittelbarem Anschluß an die Staatsbahnstation, hat ein festes 2stöckiges Bahnhofsgebäude mit Dienst- und Warteräumen und angebautem Güterschuppen. Restauration fehlt. Personalbesetzung beträgt 3 Angestellte und Arbeiter bei vereinigtem Dienst. Abfertigungs-befugnisse sind nicht beschränkt, jedoch können schwere Fahrzeuge nicht verladen werden, da feste Rampe fehlt, und sind Sprengstoffe ausgeschlossen. Hier ist Wasserstation nebst Lokomotiv-Schuppen für 1 Maschine und Drehscheibe. Der Verkehr betrug im Jahr 1900:
Personen | Vieh (to) | Güter (to)
Stück- | Ladungs-
Abgang | 12.776 | 3,62 | 377,5 | 4.108,0
Eingang | 350,7 | 1.966,1“
Der Verkehr auf der Schmalspurbahn war ja erst im Jahr 1899 aufgenommen worden. Heute ist davon außer dem Gebäude und der Trasse als Radweg nichts mehr da. Mit „Hauptstrecke“ ist jene zwischen Walkenried und Braunlage gemeint, die Nebenstrecke war die von Brunnenbachsmühle nach Tanne. „Gemischt“ bedeutet, dass Personen und Güter mit einem Zug befördert wurden, was auf einigen Stationen zusätzliche Rangieraufenthalte erforderte.
Und heute? Zwischen Walkenried und Braunlage fährt, allerdings über Zorge und Hohegeiß, die Buslinie 470 an Schultagen 10-11 Mal pro Richtung, in den Ferien 5-6 Mal pro Richtung, am Wochenende 3-4 Mal pro Richtung mit zusätzlichen Kursen bis und ab Zorge. Nach Wieda verkehrt die Linie 472 in ähnlichen Frequenzen, allerdings ohne Verkehr an Sonn- und Feiertagen. Am heutigen Bahnhof Walkenried treffen sich an Spitzentagen also 34 Personenzüge, einige Güterzüge und bis zu 40 Linienbusse. Nicht schlecht – nur Güter werden keine mehr auf der Schiene verladen.
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2017: Der Reiseverkehr erfolgt im Stundentakt, die Laderampe gegenüber hat ausgedient, für den Güterschuppen gilt das Motto „Ruinen schaffen ohne Waffen“ – der stolze Bahnhof kündet jedoch noch von der großen Zeit der Eisenbahn in Walkenried.
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