(von Ruth Monicke)
Walkenried im Südharz, im Jahre 1946, für viele Menschen bekannt als Durchschlupf unter dem Zaun in die sowjetische Zone. Das Risiko geschnappt zu werden ist groß; ein paar Tage im Gewahrsam wird in Kauf genommen – es gab schon Schlimmeres. Walkenried, Endpunkt des Krieges, ist nun auch Endpunkt der Eisenbahn. Zudem vollgestopft mit Flüchtlingen aus dem Osten. Und dann setzt der Strom der Vertriebenen erst richtig ein. Mit der beschaulichen Idylle im Südharz ist es vorbei. Es funktioniert alles mehr schlecht als recht.
Der kleine Ort, nun Grenzort und von seiner wirtschaftlichen Ader urplötzlich abgeschnitten, ist einfach überfordert. Und von überallher kommen weitere Menschen die einen Unterschlupf suchen. Eigentlich wollten sie mit der Familie „rüber“, das wurde plötzlich unmöglich. Der Wohnraum ist schon lange erschöpft. Die Behausungen und Gelasse, die sich heute keiner mehr vorstellen kann, beherbergen Obdachlose, deren Zuhause nicht mehr vorzufinden ist. Im Park und überall halten sich Gestrandete auf, trocknen bescheiden Wäschestücke. Bisher ist es noch warm, was aber wenn der Winter naht?
Und der kam schneller als erwartet. Und zwar mit viel Schnee und einer eisigen Kälte wie lange zuvor nicht mehr. Jeder erreichbare Ast und alles was Wärme spendet wird verfeuert. Die Menschen frieren, die Menschen hungern, nur die Schulkinder bekommen „Schulspeisung“. Doch es fehlt an allem, weder warme Kleidung noch genügend Nahrung steht zur Verfügung und zu allem Überfluss friert auch noch das Wasser in Walkenried ein. An verschiedenen Zapfstellen wird zu festen Zeiten das Wasser angestellt, die Bevölkerung versorgt sich so gut es geht. Nur die Kinder haben ihre helle Freude an den zugefrorenen Teichen, eine alte Tradition, sich aufs Eis zu begeben. Ein ganz neues Erlebnis auch für die Flüchtlingskinder.
Die zeitigen und sehr strengen Winter 1946 und 1947 sollten in die Geschichtsbücher eingehen. Die Kälte – oftmals bis 28 Grad – trifft die Menschen in größter Not. Es ist die Weihnachtszeit, das zweite Weihnachten nach dem Krieg, dem Krieg, der verheerende Zerstörungen hinterließ, unendliches Elend über die Menschheit brachte und den Kindern die Väter nahm. Und so rückten die Tage zum heiligen Fest näher, vielleicht stiegen auch die Erwartungen der Kinder? Wie mag es nur den Müttern ergangen sein, die sich in der verzweifelten Lage befanden, den Kindern ein schönes Weihnachtsfest gestalten zu wollen?
Doch, es ging, die Kinder hatten keine Wünsche, hatten sie schon lange nicht mehr. Sie wussten, die Mutter hat sie heil bis hierher gebracht, die Mutter ist ihnen Schutz und Hort zugleich und wenn die einsame Kerze ihr warmes Licht auch nur in einer elenden Hütte verbreitet – sie, die Kinder waren geborgen und in Sicherheit. Als die Glocken in die Kirche riefen, feierten sie alle gemeinsam das heilige Fest. Sie lauschten der Andacht und jeder fühlte die einhüllende Wärme der Gemeinschaft, das Gebet war ihr größtes Geschenk ans Leben, an das Wunder des Überlebens!
Einige Kinder von damals werden sich vielleicht noch erinnern, dass die wirtschaftliche Not in Deutschland so katastrophal war, dass sich am 26.12. 1945 die Wohlfahrtsorganisationen Amerikas zusammenschlossen und Care gründeten – die sagenhaften Care-Pakete!
In der Adventszeit 2018, geschrieben von einem damaligen Flüchtlingsmädchen.